Kunstwerk des Monats
November 2021

36 Views of Mount Fuji oder die grosse Welle (Katsushika Hokusai), 2004

Judit Villiger (*1966)
Bleistift und Gouache auf Papier
4 x 5.5 cm
Inv.-Nr. 2306

Als Ausgangspunkt für Judit Villigers Werk 36 Views of Mount Fuji oder die grosse Welle (Katsushika Hokusai), dient der von dem japanischen Künstler Katsushika Hokusai (1760–1849) geschaffene Farbholzschnitt Unter der Welle vor Kanagawa (神奈川沖浪裏), auch bekannt als Die grosse Welle, aus der Serie Sechsunddreissig Ansichten des Berges Fuji (富嶽三十六景). Die Landschaft, die um 1830 mit einer Palette aus Indigo und importiertem Preussischblau geschaffen wurde und die Debussys La Mer und Rilkes Der Berg inspiriert haben soll, gilt heute als Ikone der Weltkunst.

In ihrem Musée Imaginaire wendet sich Judit Villiger der Bühne zu, auf der die Grossen der Kunst agieren. Präzise seziert sie die Meisterwerke der Kunstgeschichte und wendet sich deren Kulissen, Räumen, Details oder Rückseiten zu. So lässt sie in ihrer kleinformatigen Arbeit 36 Views of Mount Fuji oder die grosse Welle (Katsushika Hokusai) die Fischerboote verschwinden und rückt damit den Bildfokus weg von den menschlichen Protagonisten ganz auf die stilisierte Natur. In weiteren Werken betrachtet sie beispielsweise die Ideallandschaft im Bildhintergrund der Mona Lisa, den Zaun auf der Tapisserie der Jagd nach dem Einhorn, Bäume aus einer Landschaft Caspar David Friedrichs, das Sandufer an der Loire von Félix Vallotton oder die menschenleere Schneelandschaft aus der Anbetung der Könige von Pieter Breughel d. Ä.

Was Judit Villiger in ihren Arbeiten stets in den Mittelpunkt rückt, ist das vordergründig Unscheinbare. Sie experimentiert in ihren Arrangements fortwährend mit Inhalt und formaler Konzeption der vorgefundenen Werke. Der Blick wird dabei nie direkt, sondern immer über ein Modell, eine Idealvorstellung oder eine poetische Umschreibung der Natur und Landschaft geführt. Durch die Verlassenheit der Szenerien gelingt es Judit Villiger, Bühnen zu schaffen, die Raum für eigene Assoziationen, Imaginationen und Gedanken bieten. Ausserdem zeigt sie auf, dass es bei unseren kulturell vorgeprägten Bildern der Natur keinen unvoreingenommenen Blick mehr auf diese gibt.

Judit Villiger (*1966) erhielt ihre Ausbildung an der Schule für Gestaltung Luzern, an der School of Visual Arts in New York und an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie verwebt in ihren Arbeiten Leseerinnerungen, kunstgeschichtliche und eigene subjektive Elemente zu neuen Welten. Dabei schafft sie Schauplätze – menschenleere Bühnen – und lädt die Betrachtenden ein, sich gedanklich darin zu bewegen und die Geschichten zu Ende zu spinnen. Die bühnenhaften Inszenierungen, welche zwischen Realität und Modell changieren, werden von der Künstlerin als Malerei, Zeichnung, Installation, Objekt, Konzeptkunst, Kunst im öffentlichen Raum oder Lichtkunst umgesetzt. Heute lebt und arbeitet Villiger in Zürich und Steckborn TG, wo sie das Kunstprojekt Haus zur Glocke ins Leben gerufen hat, dem sie als künstlerische Leiterin vorsteht. 

Text: Janina Ammon.