IMG 3803

Kunstwerk des Monats
Dezember 2025

Scultura, 1970

Flavio Paolucci (*1934)
Textil, Polyester, Ölfarbe, Holz
106 x 43.5 x 42.5 cm
Inv.-Nr. 2504

Ein rosafarbenes Negligé steht auf merkwürdige Weise selbstständig im Raum – ohne Stütze und ohne Körper. Der zarte Stoff, Sinnbild für Intimität, Sinnlichkeit und Weichheit, ist in Flavio Paoluccis Händen zu einer harten, leeren Hülle geworden. Durch das Eintauchen in flüssiges Polyesterharz, das die Fasern innerhalb weniger Minuten erstarren lässt, verwandelte sich das Textil in eine fragile Skulptur. «Leider macht man alle Brüche mit harten Gegenständen», bemerkte Paolucci rückblickend über diese Schaffensphase, die von einer schweren persönlichen existenziellen Krise geprägt war.

Die Forderungen der 1968er-Proteste hallten 1970 noch nach: Starre Strukturen wurden aufgebrochen, es wurde gemeinsam und solidarisch Kritik am Kriegsgeschehen geübt und die gängige Sexualmoral hinterfragt. Das Private wurde politisch. Zugleich eroberte Pop-Art die Kunstszene, und synthetische Materialien wie Polyester wurden zu Symbolen einer neuen industriellen Ästhetik, die auch bei Paolucci auf Resonanz stiess. Unter dem Einfluss von Pop Art und Nouveau Réalisme wagte er den Schritt in die Dreidimensionalität – in eine Kunst, die Stofflichkeit als Bedeutungsträger versteht und gesellschaftliche wie persönliche Spannungen in Material übersetzt.

So wird in Scultura das Weiche hart und das Intime starr. Paolucci friert einen Moment des Übergangs ein – zwischen Weiblich und Männlich, Privat und Öffentlich. «Unruhe, Fragen, Erstaunen, Erotik, Ironie», schrieb er, habe er in seine Polyesterfiguren eingeschrieben. Das kurze, aber prägnante Intermezzo dieser Polyesterarbeiten öffnete Paoluccis Werk hin zu einer neuen, skulpturalen und installativen Dimension, bevor er sich wieder jenen Materialien zuwandte, die seine künstlerische Sprache bis heute prägen: Holz, Papier und Bronze.

Flavio Paolucci wurde 1934 im Tessin geboren. Nach seiner Ausbildung, unter anderem an der Accademia di Brera in Mailand begann 1955 seine Ausstellungstätigkeit. Aufenthalte in Paris und Marokko prägten sein Schaffen, bevor er sich in Biasca niederliess. In den 1970er-Jahren erlangte Paolucci mit seinen Skulpturen internationale Anerkennung. Sein Werk ist bis heute von einer konsequenten Auseinandersetzung mit Material und Form geprägt.

Text: Aina Vogt